Ortwijn van der Yaamens „Gestaltlose Kunst“ als Wegbereiter moderner Kunstrezeption
von Walter Goghel-Kems
Ortwijn van der Yaamen ist fraglos einer der schillerndsten Charaktere des modernen Kunstbetriebs und eine der wichtigen prägenden Figuren der Moderne überhaupt. Sein Œvre ist epochengeschichtlich einzigartig; ob seine vielbeachteten kunsttheoretischen „Programme“ oder seine zahlreichen praktischen Arbeiten – niemand hat die heutige Kunstrezeption so nachhaltig geprägt wie dieser Ausnahmekünstler.
Am 29. Januar 1970 wurde Ortwijn Karl van der Yaamen als Sohn eines Cellisten und einer Orangenzüchterin im niederländischen Maastricht geboren und studierte ab 1985 an der renommierten Maastrichter Kunsthochschule „Maastrichten schoolen voor feine Artsens and Deseignzuigs“. Bereits 1986 startete er sein erstes großes Kunstprojekt „zwaluwen van regenwoud“, das ganze 16 Jahre in Anspruch nahm und bis heute eine seiner bedeutendsten Schaffensperioden markiert.
Van der Yaamens Programmatik nach verliert jedwede Form der Kunst ihr Wesen gerade durch die in der Moderne sintflutartig betriebene Dokumentation und Verbreitung. Beide, Dokumentation und Verbreitung, erzeugten den (falschen) Eindruck, man könne Kunst auch noch in dieser zweiten Instanz erfassen. Die Kunstwahrnehmung jedoch sei etwas inhärent Eigenständiges und Außergewöhnliches - ein „Kunsterlebnis“. Dieses direkte, unmittelbare Kunsterlebnis ohne vermittelndes Medium einerseits und das Kunstwerk selbst andererseits seien die einzigen beiden Formen von (echter) Kunst. Da das Leben von sich aus vergänglich ist, müsse also auch Kunst notwendigerweise vergänglich sein. „Jede Kunst, die auf ihre eigene Dokumentation ab- und damit auf Unsterblichkeit hinzielt, ist Dilletantenkunst für Hausfrauen“, schreibt van der Yaamen in seinem umstrittenen „programmen voor gestaltenloosen Kunsten".
Programm zur Gestaltlosen Kunst // Projekt „ zwaluwen van regenwoud“
Dieses Programm begann van der Yaamen direkt nach dessen Publikation 1986 in die Tat umzusetzen. Damit evozierte und prägte er gleichsam die Epoche der Gestaltlosen Kunst. Noch im selben Jahr ließ er sich im Ort Curimanaõ westlich der Stadt Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet im Brasilianischen Regenwald nieder. 16 Jahre lang ging er jeden Tag in den Regenwald und schuf dort hochkomplexe Skulpturen aus tropeneigenen Materialien wie Blättern, Lianen, Tierkadavern und Früchten, aber auch aus importierten Naturmaterialien wie Schlickfarben, Bunttran oder Äpfeln.
Die so entstandenen Kunstwerke kamen, laut van der Yaamen selbst, von allem bisher von Menschenhand Geschaffenen der „Essenz des Wesens des Seins“ am nächsten. Beides, Kunsthaftigkeit und Wesen des Seins, wurden erst durch den Umstand erreicht, dass keines der über 1000 Werke irgendeine Form der Dokumentation erfuhr. Damit näherten sie sich dem Leben an: Sie erschienen, entstanden aus den Dingen des Lebens, erhielten Energie – und vergingen. Van der Yaamen beschrieb diesen künstlerischen Prozess so: „Meine Kunst gewinnt Gestalt, behält sie kurz und kehrt in die Gestaltlosigkeit zurück, die ihre eigentliche Bestimmung ist. Wer sie nicht in genau der Raumzeit wahrnimmt, in der sie ihre Gestalt erlangte, kann dieser Kunst nicht habhaft werden und verhält sich genauso wie sie. Die Kunst jedoch ist auch da, wenn sie nicht mehr da ist.“
Wer van der Yaamens Werk betrachten und an ihm teilhaben wollte, musste es also vor Ort besichtigen, da nichts von ihm blieb oder für die Nachwelt konserviert wurde. Das feuchtheiße Klima des Regenwaldes sorgte dafür, dass die Kunst außergewöhnlich rasch ihrer eigentlichen Bestimmung, der Vergänglichkeit zugeführt wurde.
Im Jahr 2002 erklärte Ortwijn van der Yaamen das Projekt „zwaluwen van regenwoud“ für beendet und kehrte nach Europa zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt in der BRD führte er in Paris das Leben eines Bohemien und fiel durch sein exaltiertes Verhalten, seine berüchtigten cholerischen Anfälle und sein komplett in weiß gehaltenes Auftreten auf, was ihm die Reputation eines Kunstexzentrikers einbrachte.
Installationskunst – „Roggenwischmop“
Ab 2008 wandte sich van der Yaamen der Kunstform der Installation zu. Er inszenierte eine Serie von aufsehenerregenden Performances, von denen die 2009-er Happening-Installation „rogge gemengde zwabber“ (Roggenmischmop) die größte Wirkung erzeugte und am 09. Juni 2012 die 13. Documenta in Kassel eröffnete. Sieben Jahre später, im Sommer 2019, wurde die Performance auf seinen Wunsch hin in Berlin gefilmt. Es ist das erste Mal, dass ein Kunstwerk van der Yaamens dokumentiert wurde. Warum er sich zu diesem Schritt entschloss und wie es in Zusammenhang zu seinem Programm der Gestaltlosen Kunst steht, ist nicht bekannt.
„rogge gemengde zwabber“ ist in einem komplett weißen und überstrahlten Raum situiert. In der vom Betrachter aus linken hinteren Ecke sitzt auf einem Holzstuhl eine vogelartig gekleidete Cellistin, die während der kompletten Performance den immer gleichen Ton spielt.
Nach 30 Minuten Leere erscheint von rechts eine rothaarige Frau im Installationsraum, die bis auf schwere und extrem verdreckte Armeestiefel kaum Kleidung trägt. Die Halbnackte bewegt sich durch den weißen Raum, der durch die Stiefel und den von ihr mit beiden Händen auf den Boden geschleuderten Schlamm nach und nach verdreckt. Nach Ende des Auftritts bleibt ein schmutziger Raum, der 15 Minuten lang leer steht und nur vom Celloton erfüllt wird.
Nun erscheint der Künstler Ortwijn van der Yaamen selbst in einem weißen Gewand. Er trägt einen großen Putzeimer voller Milch und einen Mop („zwabber“), an dessen Ende jedoch statt des Putzaufsatzes ein übergroßes Roggenbrot angebracht ist. Diesen Brotmop durchtränkt Ortwijn van der Yaamen mit der Milch aus dem Eimer und beginnt dann mit dem eingemilchten Mop den verdreckten Raum zu wischen. Diese Wischphase dauert dreieinhalb Stunden.
Ortwijn van der Yaamen gelang mit dieser Installation, obwohl er ihr selbst jede Form von Symbolik abspricht, eine ungeheuer wirkmächtige Symbolverdichtung. Milch als Zeichen der unverstellten Natürlichkeit des Neugeborenen wird vom Brot als Symbol für die kulturelle Überformung und die Beherrschung der Natur getragen und vermischt sich unweigerlich mit dem Schmutz, den die westliche Kultur „an ihren Stiefeln trägt“. Die Rückkehr zur unschuldigen Natürlichkeit ist kaum möglich, inszeniert sich der Künstler doch als moderner Sisyphos, der eine kathartische Reinigung zwar anstrebt, den Schmutz jedoch nur zu verdünnen scheint. Der Kunst ist hierbei eine beobachtende, ein-tönige Rolle zugeschrieben, die aus ihrer Nische heraus zwar wirken will, jedoch lediglich den Raum mit Nicht-Existenz füllen kann.
Van der Yaamen begründet mit seinen Happenings sein zweites künstlerisches Grundsatzprogramm, das „Programm zur Maastrichter Farbaskese“, in welchem er zentral fordert, dass die Realität sich seinen künstlerischen Vorstellungen anzupassen habe und nicht umgekehrt.
Ortwijn van der Yaamen führt ein zurückgezogenes Leben in Paris.
Vita
*29.01.1970 in Maastricht
April 1985 Studienbeginn an der Maastrichten schoolen voor feine Artsens and Deseignzuigs, zusammen mit Vytautas Eglin
Februar 1986 Veröffentlichung “programmen voor gestaltenloosen Kunsten”
Oktober 1986 Beginn des Projektes zwaluwen van regenwoud in Curimanaõ, westlich der Stadt Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet im Brasilianischen Regenwald
August 2002 Rückkehr in die BRD
Dezember 2002 Umzug nach Paris
Juni 2003 Veröffentlichung “Programm zur Maastrichter Farbaskese”
Juli 2003 bis Mai 2012 – unbekannt
9. Juni 2012: Eröffnung der Documenta 13 in Kassel mit „rogge gemengde zwabber“ (Roggenmischmop)
Sommer 2019: erste und bisher einzige Aufzeichnung der Performance „rogge gemengde zwabber“ (Roggenmischmop) in Berlin